Geschichte lebt davon, Geschichten zu erzählen. Eine alte Kultur wie die chinesische, hat viele zu bieten. Aus ihnen können wir lernen: über das Land, darüber, wie es heute dort ausschaut, und vielleicht auch, wie es werden wird in der Zukunft dieser neuen Weltmacht.
Tief in Chinas Geschichte und Mythologie wurzelt etwa das Xiyouji (西游记), der Roman „Die Reise nach Westen“, der allerhand Erlebnisse eines Mönchs in der Tang-Zeit erzählt und im 16. Jahrhundert, während der Herrschaft der Ming-Kaiser (明朝), aufgeschrieben wurde. Er schildert eine Fülle von Abenteuern, die vier Reisende, der Mönch Tang Seng (唐僧), ein Affe, ein Schwein und ein Wassergeist auf der Suche nach buddhistischer Erleuchtung im „Westlichen Himmel“ (西天), im damaligen Zentralasien und Indien erlebten. Das ist dort, wo Karawanen auf den von Europäern später „Seidenstraße“ (絲綢之路) genannten Pfaden den Osten und den Westen miteinander verbanden. Es ist literarisch ein Riesenspaß, ein unterhaltsames Kaleidoskop, die das wundersame Faszinosum des fremden Westens für die Menschen in China erklären und begreifbar machen sollte.
Hier knüpfte Xi Jinping, seit 2012 Generalsekretär der KPCh und seit 2013 Präsident Chinas auf Lebenszeit, mit seinem großen Projekt an – einer „neuen Seidenstraße“, die sich von Peking quer durch Zentralasien bis in den Westen zieht und über die Meere spannt. „Ich höre die Kamelglöckchen klingeln und sehe den Rauch der Oasenfeuer emporsteigen,“ sagte Xi Jinping, als er 2013 in Kasachstan die Idee Pekings vorstellte, mit viel Geld Straßen, Schienen und Flughäfen zu bauen, um die Länder der Welt noch besser miteinander zu verknüpfen.
Anders aber als in der Zeit des Xiyouji späht China nun nicht mehr neugierig nach den Wundern der Ferne und der Weisheit der Fremde. Es baut vielmehr Eisenbahntrassen bis ins ferne Duisburg, Porto und London, es baggert Häfen in Sri Lanka, Djibouti und Piräus aus, dazu asphaltiert es Straßen in Montenegro, Tansania und Pakistan.
Der Zweck dieses Projektes ist es, chinesische Waren überall an den Mann oder die Frau zu bringen, zugleich chinesischen Arbeitern in Südostasien, Südamerika oder Südwestafrika Lohn und Brot zu verschaffen. Erstmal um die ganze Welt verschickt, erstellen sie dann mit chinesischem Kapital und Knowhow – das ist die neue „Weisheit“ des Ostens – Infrastrukturprojekte von gigantischen Ausmaßen. Für solche Gigantomanie verschulden sich die häufig kleinen und meist armen Empfängerländer auf Jahrzehnte in Peking, unterwerfen sich zudem chinesischer Rechtsprechung, und so gibt Peking weltweit den Ton an.
Vom Erfolg dieser neu errungenen Macht profitieren auch wir.
Das jedoch ist nicht mehr der freundliche Ton einer uralten freundlichen Reiseerzählung. Es ist die Sprache einer neuen Weltmacht. China ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, beherrscht große Teile der internationalen Liefer- und Handelsketten, hunderte Millionen Chinesen haben sich aus dem Zustand absoluter Armut emporgearbeitet, studieren, reisen und arbeiten im Ausland. Sie genießen einen Wohlstand, der vor dem Beginn der Zeit der sogenannten „Reform- und Öffnungspolitik“ vor 40 Jahren undenkbar gewesen wäre.
Vom Erfolg dieser neu errungenen Macht profitieren auch wir. Der Preis unserer iPhones wäre wahrscheinlich unbezahlbar, wären sie nicht in China zusammengebaut worden. Und wir fangen besser gar nicht erst an, die Umsätze europäischer Unternehmen zu errechnen, hätten sie keine chinesischen Abnehmer für ihre Waren. Grund genug, froh zu sein, dass sich die Vernetzung der globalisierten und digitalisierten Welt, um einen solch ertragsträchtigen Akteur wie China bereichert hat. Allerdings sollten wir genau Bescheid wissen, mit wem wir es mit diesem China und dieser KP zu tun haben.
Die KPCh erzählt gerne von der Geschichte, auch Xi Jinping tut das mit Vorliebe. 5000 Jahre alt sei China, allerdings 100 Jahre lang von westlichen Imperialisten und japanischen Aggressoren gedemütigt worden. Doch Dank der KPCh sei die Zeit des Wiedererwachens Chinas gekommen. Nun wird das Land den ihm zustehenden Platz in der Welt wieder einnehmen. In dem Bestseller „Der chinesische Traum“ von Liu Mingfu aus dem Jahr 2010 heißt es dazu, es sei das „Schicksal“ Chinas, die Welt zu führen. „Der chinesische Traum“ war Xi Jinpings Schlagwort, als er 2012 die Macht in China ergriff.
Nationen sind, wie wir von dem Wissenschaftler Benedict Anderson wissen, „eingebildete Gemeinschaften“. Menschen erdenken sich eine gemeinsame „Nation“, wenn sie sich von einer schnell verändernden Umwelt bedroht fühlen und Schutz im Zusammengehörigkeitsgefühl suchen. Das geschah mit der Unabhängigkeit und Gründung der Vereinigten Staaten im 18. Jahrhundert, in Europa und Lateinamerika im 19. Jahrhundert, und so geschieht es noch heute, wie wir beim Ringen um staatliche Souveränität rund um den Globus immer wieder aufs Neue beobachten.
George Orwell: „Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“
In China benutzt die KP diese menschliche Neigung nach Sicherheit und Geborgenheit für ihre Zwecke des Machterhalts. In ihrer historiografischen Erzählung gibt es keine Völker, aus denen im Lauf vieler Dynastien (darunter vieler nicht-chinesischer) jenes Amalgam entstand, das wir heute als chinesische Kultur und China verstehen. In dieser KP-autorisierten Geschichte gibt es nur ein einziges jahrtausendealtes, unveränderliches chinesisches „Volk“, unterdrückt vom „Westen“, und schließlich durch die KP befreit. Die hat somit durch das „Volk“ das Recht zugesprochen bekommen, China zu regieren. Und zwar totalitär und, wer weiß, auf alle Ewigkeit.
Totalitäre Herrschaft bedeutet, dass es keine Grenzen zwischen dem Leben der Bürger und dem allumfassenden Herrschaftsanspruch der Partei gibt. Die KP greift zur Erklärung dessen weit in die Geschichte zurück. Inzwischen wird selbst Konfuzius dafür bemüht, der Philosoph, der vor 2500 Jahren lebte und eigentlich eine perfekt regierte und funktionierende Feudalgesellschaft anstrebte. Damit hat er, so heißt es in der Propaganda jetzt, genau jene „sozialistischen“ Gesellschaftsstrukturen vorgedacht, die die KP heute verwirklicht habe. Selbstverständlich mit dem Partei- und Staatschef wie einem Vater – oder Kaiser – an der Spitze, den Parteisekretären, die, wie früher die Mandarine, den Willen des Herrschers umsetzen, und mit einem Volk, das seinen Herrscher liebt und ihm aufs Wort gehorcht.
Natürlich ist das ein durch und durch gefälschter „Konfuzius“. Meister Kong (孔夫子) hat die Welt philosophisch zu verstehen versucht und komplexe Gedankengänge entwickelt, die der einfachen, schwarz-weißen Welt der KPCh fern sind. Doch lohnt es, ihn für die Zwecke der Partei zu instrumentalisieren, und selbst im Westen lässt sich die Geschichte dieses großen Denkers nutzen; man denke an die „Konfuzius-Institute. Worauf das hinausläuft, zeigt George Orwell in seinem Roman „1984“, in dem ein Parteisekretär sagt: „Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“
Kontrolliert die KPCh die Zukunft? Was dies für China bedeuten könnte, sehen wir bei einem weiteren Blick in die Geschichte. Von 1368 bis 1644 wurde China von der Ming-Dynastie regiert. Die Ming (明朝) hatten die Mongolen, die Gründer der Yuan-Dynastie (元朝), als Herrscher Chinas abgelöst. Sie wiederum wurden vom Nomadenvolk der Mandschu, den Gründern der Qing-Dynastie (清朝), vom Thron gestoßen. Die Ming-Herrscher hatten also guten Grund, fremde Völker zu fürchten. Sie erbauten die Chinesische Mauer wie wir sie heute kennen, ein Bollwerk, das die Nomadenvölker der nördlichen Steppen fernhalten sollte.
Liu Xiaobo: „Ein starkes Land braucht keine Mauer“.
Gegen die vermeintlichen Bedrohungen, die übers Meer kommen könnten, erließ der Ming-Hof überdies Gesetze, die befahlen, keine Siedlung dürfe näher als zehn Meilen an der Küste liegen, und niemand dürfe das Meer außer zum Zweck der Küstenfischerei befahren. Selbst die großen imperialen Erkundungsfahrten im Indischen Ozean wurden während der Ming-Regentschaft untersagt. Die ab dem 16. Jahrhundert in China eintreffenden Händler und Missionare aus Portugal, Spanien und der Niederlande durften sich nur an festgelegten Orten wie Macau oder Kanton niederlassen und sich nur mit Bewachung im Land bewegen.
Liu Xiaobo (刘晓波), der berühmte chinesische Kämpfer für Demokratie, politische Gefangene und Friedensnobelpreisträger von 2010, der 2017 in einem chinesischen Gefängnis an einem unbehandelten Krebsleiden verstarb, sagte mir einmal: „Ein starkes Land braucht keine Mauer“. Die KP sieht das anders. Schon 1991 schrieb der spätere chinesische Präsident Jiang Zemin (江泽民) in der Parteizeitung Renmin Ribao („Volkszeitung“ 人民日報“), jeder Chinese müsse in seinem Herzen „eine Chinesische Mauer aus Stahl“ errichten.
Dieser Wunsch, sich gegen vermeintliche Gefahren aus dem Ausland zu schützen, das ist unter Xi Jinping zur Obsession eines ganzen Landes geworden, das jetzt in der Tat an die Ming-Dynastie erinnert. Die Lektüre nichtchinesischer Literatur ist in Xis China mittlerweile untersagt, es sei denn, es ist beruflich erforderlich. Der Import von Filmen, Fernsehsendungen, Musik, besonders aus dem Westen, wird stark eingeschränkt und scharf kontrolliert. Filme ohne positive chinesische Protagonisten haben keine Chance in China gezeigt zu werden und Hollywood hat sich längst bei der Produktion darauf eingestellt.
Die KP hat letztes Jahr die Einführung eines sogenannten „doppelten Kreislaufs“ (双循环) für die Volkswirtschaft beschlossen. Sie will den Wirtschafts- und Handelsaustausch mit dem Ausland auf das für China notwendige Minimum beschränken. Zugleich erfahren ausländische Unternehmen in China, das sie nicht mehr erwünscht sind, sobald es chinesische Firmen gibt, die gleiche Produkte herstellen können.
Die Unternehmen, die bleiben dürfen, sollen chinesisches Personal bis hinauf zur Chefebene beschäftigen und sich, in der Zusammenarbeit mit der Partei, in ihren Strukturen weitgehend den Staatsunternehmen angleichen. Daher residieren in China nach dem letzten Zensus von 2020 nur noch 845.697 Ausländer, und davon stammen die meisten aus Nachbarländern wie Myanmar oder Vietnam. Zum Vergleich: im kleinen Luxemburg leben etwa 300 000 Ausländer, mehr als in Peking und Shanghai zusammengenommen.
Die Corona-Pandemie hat es der Partei erleichtert, das Land noch rascher einzumauern. Strenge Quarantäneregeln schrecken Reisewillige ab nach China zu kommen. Die Kontrolle der eigenen Bevölkerung mit elektronischen Maßnahmen, das in unseren Medien bereits reichlich beschriebene „Sozialkredit-System“ (社会信用体系), lässt sich zwecks vermeintlicher Pandemieprävention immer weiter ausbauen. Noch tritt Xi Jinping international als Vertreter von Globalisierung und grenzüberschreitender Zusammenarbeit auf. Tatsächlich entfernt er das Land aus seinen internationalen Bindungen, solange sie nicht zum Nutzen der KP sind.
Die immer totalere Überwachung in den sozialen Medien, Videokameras überall, immer schärfere Gesetze gegen alles, was Dissens sein könnte.
Wer sich ein wenig mit China beschäftigt hat, von seiner komplexen, vielfältigen Kultur fasziniert ist, wer mit so vielen neugierigen, den Überraschungen dieser Welt gegenüber aufgeschlossenen Menschen dort Umgang pflegte, den machen diese Entwicklungen fassungslos. Es bedrückt den Beobachter, wie sich all das auf das Innenleben der chinesischen Gesellschaft auswirkt.
Die immer totalere Überwachung in den sozialen Medien, Videokameras überall, immer schärfere Gesetze gegen alles, was Dissens sein könnte. Nicht „mannhaft“ wirkende Darsteller dürfen im Fernsehen nicht mehr auftreten, Stars, die zu viel verdienen, werden verfemt und im Netz gemobbt. Erfolgreiche Firmen – vornehmlich aus dem Internet-Bereich – müssen ihre Gewinne an den Staat abtreten. Schulkinder dürfen kein Englisch mehr lernen, sondern müssen die „Gedanken“ Xi Jinpings auswendig aufsagen können. Die Zeit am Bildschirm wird Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren jetzt gesetzlich vorgeschrieben (vielleicht ein Traum auch mancher westlichen Eltern) – nur noch drei Stunden am Wochenende. Videospiele müssen von Staats wegen überdies politisch und historiografisch korrekt sein, sonst werden sie aus dem Netz verbannt.
Auch hier hat die Pandemie die Durchsetzung dieser Maßnahmen erleichtert, denn zur Angst vor der Partei kam die Angst vor der Krankheit. Gegen diese konnte nur die Partei – genauer: nur Xi Jinping persönlich – helfen. Nun gibt es Raum für eine plausible Erzählung davon, wie schlecht Demokratien mit der Gefahr umgegangen sind, und wie vorzüglich es den Chinesen ergangen sei, die sich unter massiver physischer Gewaltandrohung über Monate in ihre Wohnungen einsperren ließen.
Für den im nächsten Jahr anstehenden XX. Parteitag der KPCh werden daher zwei Kampagnen vorbereitet. Eine hat die Neubestimmung der chinesischen Geschichte der letzten siebzig Jahre zum Ziel. Was bisher noch als „Fehler“ erschienen ist, wie etwa der mörderische „Sprung nach vorne“ in den 1950er Jahren, wird reingewaschen werden. Zudem soll die Gesellschaft weiter nach „links“ verortet werden. Als ideologische Richtschnur zählt fortan nur noch das bereits in der Verfassung festgeschriebene „Denken Xi Jinpings“.
Damit dürfte wohl auch fortgesetzt werden, was wir bisher schon als „Ausgreifen“ der Politik der KPCh über die Grenzen des Landes hinaus erleben. Da geht es nicht nur darum, chinesische Vertragsbedingungen weltweit durchzusetzen, wie wir das bei der „neuen Seidenstraße“ bereits beobachten. Da geht es nicht nur darum, dass China sich die Hoheit über Seegebiete von der Fläche Mexikos in Südostasien militärisch sichert, seine Soldaten in Indien über die Grenze hinweg angreifen, oder dass es Taiwan tagtäglich mit Flügen seiner Kampfjets und seiner Marine terrorisiert. Stolz berichtete das Staatsfernsehen CCTV, zum chinesischen Nationalfeiertag, dem 1. Oktober, hätten 38 Kampfjets Taiwan als „Militärparade in der Luft“ überflogen.
Aber es geht noch viel mehr:
- Nun nimmt Peking ohne Zögern zum Beispiel kanadische Staatsbürger als Geiseln in Haft, wenn eine chinesische Staatsangehörige in Kanada in ein Strafverfahren verwickelt werden könnte, und lässt sie erst nach Rückkehr der eigenen Staatsangehörigen wieder frei.
- Unlängst stellten die sogenannten Pekinger „Wolfskrieger-Diplomaten“ der australischen Regierung eine Liste mit 14 Forderungen für „besseres Verhalten“ zu. Diese müssten erfüllt werden, wolle Australien Wirtschaftssanktionen vermeiden. Der Grund dafür: Canberra hatte öffentlich gefordert, Peking solle die wahren Ursachen der Corona-Pandemie untersuchen und offenlegen.
- Immer mehr Buchverlage, auch in Europa, sehen sich von Geschäften in der Volksrepublik ausgeschlossen, wenn sie Bücher mit Landkarten veröffentlichen, die nicht die Territorialansprüche Pekings widerspiegeln. D.h. Taiwan, die Südchinesische See und umstrittene Gebiete im Himalaya müssen auf Karten als „China zugehörig“ gekennzeichnet sein.
- Der Vertrag mit Großbritannien von 1997 über die politischen Freiheiten und die Verfassung Hongkongs wird von Peking einseitig für null und nichtig erklärt.
- Und ein neues Sicherheitsgesetz bedroht seit diesem Jahr auch Nicht-Chinesen mit Strafen, wenn sie Positionen vertreten, die nicht mit den politischen Vorgaben der KP übereinstimmen – selbst, wenn diese „Verstöße“ gar nicht in China passiert sind.
Das dürfen wir als Abschiedserklärung gegenüber den mit der UN-Charta universalisierten Werten der Aufklärung verstehen.
Alles das klingt erschreckend und wir fühlen uns dabei vielleicht zunächst an das aggressive Gebaren der einstigen Sowjetunion erinnert. Doch das, was der „Economist“ unlängst „die neue Wirklichkeit Chinas“ nannte, unterscheidet sich grundsätzlich von den alten westlichen Auseinandersetzungen mit der UdSSR. Bei allem imperialen Ehrgeiz der KPdSU waren die russischen Kommunisten doch als marxistische Partei, noch immer Fleisch von unserem Fleisch. Das heißt, auch sie fühlten sich dem Erbe der Aufklärung verpflichtet.
Das ist im Falle der VRCh anders. Die KP bekennt sich zum sogenannten „Sozialismus chinesischer Prägung“ (中国特色社会主义). Chinas Kommunisten bieten der Welt an, sogenannten „chinesischen Lösungen“ für ihre Probleme zu folgen – also den Vorgaben der KPCh zu gehorchen. Das dürfen wir als Abschiedserklärung gegenüber den mit der UN-Charta universalisierten Werten der Aufklärung verstehen.
Es ist damit auch der Abschied von den Regeln, mit denen unsere komplizierte globalisierte und pluralisierte Welt in Gang gehalten wird. Ein Beispiel: hätte Peking sich Ende 2019 an die Regeln der Weltgesundheitsorganisation gehalten, das heißt, schon die ersten Corona-Fälle gemeldet und internationalen Experten Zugang zum Reich der Mitte gestattet – wie viele hunderttausende oder Millionen Menschen wären dann heute noch am Leben?
Aber der KP und ihrem Führer Xi Jinping geht es einzig um die eigene Reputation. Und deshalb sehen wir, dass diese KP, die „immer Recht hat“, die Welt in eine Katastrophe trieb, während Kritiker der Pandemiepolitik Pekings bestraft werden.
Aber Vorsicht! Das alles ist grundsätzlich ganz und gar legitim. Für die Staaten der Welt existiert keinerlei unabänderliche Verpflichtung auf die Werte der Aufklärung, selbst wenn sie das, wie jedes Mitglied der Vereinten Nationen, einmal unterschrieben haben. Jeder kann sich davon abwenden, denn wir haben keine Weltregierung. Schließlich ist das, was wir als „Aufklärung“ verstehen, das heißt, das Streben nach rationaler Urteilskraft, individueller Freiheit und individuellem „Glück“, eine mindestens bis auf die griechischen Philosophen zurückgehende Geschichte von fortdauerndem Ringen mit langen, schmerzhaften und grauenhaften Rückschlägen – und davon können gerade wir Deutsche beim Blick ins 20. Jahrhundert ein Lied singen. Dennoch, beim Umgang mit einer neuen und einflussreichen Weltmacht sollten wir genau wissen, mit wem und mit welcher Herausforderung wir es zu tun haben.
Dieses Dilemma kennen die Menschen in China naturgemäß selbst am besten. Sie ziehen daraus Konsequenzen, die uns auf den ersten Blick befremden. Die vergleichsweise wenigen Andersdenkenden und Regimekritiker, die mit klarem Blick erkennen, was mit ihrem Land geschieht, und deshalb die KP kritisieren und anklagen, sie finden wenig Resonanz unter ihren Landsleuten.
Bei einer international besetzten Podiumsdiskussion unlängst beim „Internationalen Literaturfestival Berlin“ waren sieben von acht Teilnehmern der Meinung, eine demokratische Entwicklung in China sei ausgeschlossen. Der Grund: die große Mehrheit der Menschen hätten das Angebot der KP akzeptiert, Wohlstand im Tausch gegen politisches Stillhalten genießen zu dürfen. Sie müssen ein vorschriftsgemäßes Leben führen und verstummen. Nur ein Panelist konnte sich eine Demokratisierung in China vorstellen, aber nur als Ergebnis eines Putschs innerhalb der KP.
Die engagiertesten Köpfe, Dissidenten und Menschen, die bereit sind, selbst ihr Leben für Veränderung in ihrem Land aufs Spiel zu setzen, sie müssen China letztlich verlassen. Das geschieht aber nicht in Form eines „Braindrains“, einem Abwandern von Wissenschaftlern und Experten, die anderswo mehr Einkommen suchen und finden. China trifft es schlimmer. Das Land erleidet einen geistigen Verlust. All dies geschieht einer großen und alten Kultur, die eine Bereicherung der Weltkultur gewesen ist. Diese Kultur fehlt uns jetzt, gerade in der Zeit der großen globalen Umwälzungen, einer Epoche, in der wir eigentlich neue Ideen und kreative Gedanken überall sehnlichst bräuchten.
Eingeschlossen hinter einer neuen Chinesischen Mauer, können die roten Mandarine 1,4 Milliarden Menschen nach Gutdünken zum Erhalt ihrer Macht einstellen.
Goethe hat gesagt, dass freier geistiger Austausch den Menschen ebenso viel nütze, wie der Freihandel der Waren. Die KPCh jedoch sieht geistige Freiheit als Bedrohung ihrer Macht. Sie hat zurück in die Geschichte geblickt und daraus das gelernt, was ihr am Ehesten zupasskam. Sie will eine Gesellschaft schaffen, die eingeschlossen ist wie, auch das ist eine alte chinesische Fabel, ein Frosch, der im Brunnen gefangen ist (井底之蛙)und den Ausschnitt des Himmels, den er über sich sieht, für die ganze Welt hält.
Eingeschlossen hinter einer neuen Chinesischen Mauer, können die roten Mandarine 1,4 Milliarden Menschen nach Gutdünken zum Erhalt ihrer Macht einstellen. Die Unternehmen folgen furchtsam den Vorgaben der Staatswirtschaft und die Menschen funktionieren als gehorsame Untertanen, die das denken und sagen, was die Partei ihnen vorgibt.
Also sehen wir vom Ausland aus hilflos zu, wie Menschen, die sich ein anderes, menschlicheres System vorstellen können, verbannt oder gar umgebracht werden, wie etwa der Schriftsteller Liao Yiwu und der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Wir müssen zusehen, wie in Tibet eine alte Religion vernichtet wird oder wie in Xinjiang mehr als eine Million Moslems in Lager eingesperrt sind.
Eben deshalb müssen wir versuchen, uns einen Reim darauf zu machen, was da geschieht in China, im bevölkerungsreichsten Land der Erde und einer von zwei verbleibenden Supermächten. Wir sollten verstehen, wie zutiefst tragisch diese Entwicklung zu enden droht. Wir können aus dem Mut von Menschen wie Wei Jingsheng, Liao Yiwu, Liu Xiaobo und anderen Dissidenten vieles über China und seine Kultur lernen. Und wenn wir uns eine gemeinsame, eine universale Zukunft mit China vorstellen, dann in der Hoffnung, dass dieses China ein Land sein wird, das von Menschen wie ihnen und ihren Leidensgenossen geprägt sein wird.
(Aus einem Vortrag am 8. Oktober, gehalten auf dem Literaturfestival „Literatur im Nebel“ in Heidenreichstein, Österreich.)
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