Mit den Lockdowns in Shanghai droht Xi Jinpings Corona-Politik zu scheitern. Unruhe regt sich unter der Bevölkerung, aber außer Propaganda und Härte hat Peking wenig zu bieten.
Ein bisschen lag dieser Tage in Shanghai so etwas wie ein Déjà-vu von Walter Ulbrichts berühmtem Sager in der Luft: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. Noch am Sonntag verkündeten die streng kontrollierten chinesischen Medien nämlich: „Es wird keinen Lockdown in Shanghai geben.“
Am Montag dann riegelten Polizeikräfte das supermoderne Wirtschaftszentrum Pudong für vier Tage mit mannshohen Plastikmauern ab. Am Freitag wurde der westlich (chinesisch „Xi“) des Huangpu-Flusses gelegene Stadtteil Puxi, die Altstadt, in eine „kurzfristige Ruhephase“ versetzt. Jeder Einwohner wird nun einem Zwangstest unterzogen, positiv Getestete werden zuhause eingesperrt und müssen sich zu Tausenden in Messehallen und Veranstaltungszentrum internieren lassen.
Sofort nach Beginn der überhasteten Maßnahmen kam es zu Hamsterkäufen. Viele der mehreren Millionen Pendler versuchten, fluchtartig die Stadt zu verlassen, wurden aber von Sicherheitskräften daran gehindert. Jetzt sieht man nach Augenzeugenberichten allenthalben Menschen, die unter Brücken kampieren, bei Nachttemperaturen unter sechs Grad.
Wohlgeölte Propagandamaschinerie
Shanghai ist Chinas Banken- und Wirtschaftszentrum schlechthin. Knapp 25 Millionen Einwohner, mit 31 Millionen TEU der größte Containerhafen der Welt. Aller Covid-19-Euphemismus von der „kurzen Ruhepause“ hin und her, dass Chinas größte Metropole nun vor einer Viruserkrankung kapituliert, ist der augenfälligste Beweis, dass die „Null-Covid-Politik“ von Staats- und Parteichef Xi Jinping krachend gescheitert ist.
Das hatte sich freilich schon seit Wochen abgezeichnet. Zwar hatte Chinas wohlgeölte Propagandamaschinerie während der Olympischen Winterspiele in Peking noch mit voll vermummten Barkeepern und Zimmermädchen im Ebola-Schutzanzug vorzuspielen versucht, dass man die Seuchenlage im Land im Griff habe. Aber dann wurde dieses Bild durch andere Nachrichten gestört: Dutzende Millionen Menschen, darunter die gesamte nordöstliche Provinz Jilin und die Technologiemetropole Shenzhen im Süden des Landes, wurden kurz darauf mit einer Ausgangssperre belegt. Besonders schlimm hatte es in den letzten Wochen die politische „Sonderverwaltungszone“ Hongkong erwischt.
Goldmedaille für Todesfälle
Zwei Jahre nachdem man dort Studenten das Demokratievirus aus dem Leib geprügelt hatte, die 7,5 Millionen Einwohnerstadt vom Bazillus der freien Presse gesäubert war und die letzte freie Kommunalwahl gefälscht wurde, gingen in der einstigen britischen Perle des Orients die Särge aus. Gut eine Woche lagen die Inzidenzen an der Weltspitze. Und in ihrer Panik ließ Carrie Lam, die Regierungschefin der Hafenstadt, selbst infizierte Kleinkinder in Krankenhäusern von ihren negativ getesteten Eltern separieren, was zu einem internationalen Aufschrei führte. Mittlerweile haben die offiziellen Hongkonger Corona-Todeszahlen mit 7.945 bei 7,5 Millionen Einwohnern (0,1 Prozent), fast das Doppelte von Wuhan erreicht, wo die Pandemie vor zwei Jahren ihren Ausgang nahm. Da noch lange kein Ende der Gesundheitskrise abzusehen ist, hat die Stadtregierung nun beschlossen, erst einmal die Plätze in den städtischen Leichenhallen und Krematorien zu erhöhen.
Im Pekinger Politbüro macht sich Nervosität breit, dass sich dies in Shanghai wiederholen könnte. Dort wurden letzte Woche 6.886 Infizierte ausgemacht (bei 25 Millionen Einwohnern sind das 0,0275 Prozent). Das gilt als der bisher größte Ausbruch der Viruserkrankung im Land. Dabei dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.
Xi fährt sein Land an die Wand
Zwar behauptet die Pekinger Führung immer noch, mit insgesamt nur 4.636 Toten in ganz China seit Beginn der Pandemie weltweit die beste Covid-19-Vermeidungsstrategie gefahren zu haben. Aber Chinas Statistiken sind stets eine Mischung aus Propaganda-Wunschdenken und plumper Fälschung.
Oder wie ist es sonst zu erklären, dass es in Hongkong, das ähnlich wie das Festland unter einem strengen Corona-Regime ächzte, aber aus britischer Kolonialzeit noch relativ korrekte Gesundheitsstatistiken führt, fast doppelt so viele Corona-Tote gegeben haben soll wie im großen chinesischen Mutterland mit seiner 1,4-Milliarden-Bevölkerung?
Die Zentralregierung versucht krampfhaft zu vertuschen, was nicht mehr zu leugnen ist. Auch in China wird das manische Corona-Regime von Xi Jinping der Wirtschaft schwer schaden. Null-Covid, erdacht als willkommenes Herrschaftsinstrument der Xi-KP, um die Zügel noch mehr anzuziehen, ist nicht mehr durchsetzbar. Nach einer Studie eines taiwanischen Think-Tanks müsste der KP-Chef in wenigen Wochen zwei Drittel des Landes in den Lockdown versetzen, wenn er seine strenge Pandemiepolitik nicht ändert.
Aber damit fährt er nicht nur sein Land an die Wand, auch die Lieferketten des globalen Handels, ohnehin schon extrem geschwächt wegen des Krieges in der Ukraine, würden schweren Schaden nehmen. Nicht auszudenken die Folgen für die heimische Wirtschaft. 70 Prozent der in China ansässigen deutschen Unternehmen operieren in China aus dem gigantischen Wirtschaftsraum in Schanghai und seiner Umgebung.
Wer verdient sich an den Zwangstests dumm und dämlich?
Darüber hinaus tragen viele chinesische Bürger den gnadenlosen Anti-Covid-Wahn nicht mehr mit. In Pudong, wo die Ausgangssperre bis Freitag zuerst einsetzte, hatten die Menschen keine Zeit, sich vorzubereiten. Wie soll es Lieferdiensten gelingen, das größte urbane Siedlungsgebiet des Landes mit Essen zu versorgen?
Schon kursieren Bilder im Internet, auf denen man Börsenhändler vor ihren Bildschirmen und Markthändler unter Verkaufsständen in Schlafsäcken nächtigen sieht. Sie hatten es vor Verkündung der Schließungsmaßnahmen nicht mehr nach Hause geschafft. Zeigen solche Bilder aber Ausdruck von Unmut oder gar kleinen Protesten, mühen sich die vielen Millionen chinesischer Trolle, die „kleinen Rosaroten“, dies innerhalb weniger Sekunden aus der digitalen Sphäre zu verbannen.
Die in Taiwan erscheinende „Liberty Times“ zeigte Bilder von Protesten (dazu im chinesischen Text runterscrollen). Die Menschen rufen: „Wir wollen essen, wir wollen arbeiten.“ Lauter Applaus ertönt. Dann skandiert jemand: „Wir wollen Freiheit.“ Das ist gefährlich im Reich von Xi Jinping, weil darauf lange Haftstrafen stehen. Entsprechend verhalten ist die Zustimmung der Umstehenden. Kurz darauf erscheint der Staatsschutz und löst die Versammlung auf.
Die Shanghaier gelten als die geschäftstüchtigsten Chinesen. Immer lauter wird deshalb gerade im Wirtschaftszentrum die Frage gestellt, wer die eigentlichen Nutznießer dieser milliardenfachen Testphobie sind, die seit zwei Jahren dem Land oktroyiert wird. Wer verdient sich an den Zwangstests dumm und dämlich, den verpflichtenden Masken, den Schutzanzügen und Desinfektionsmitteln? Sind es wirklich rote Prinzen, die Kinder der KP-Fürsten? Aber Fragen wie diese zu stellen, das endet im Gefängnis.
Derartiger Rigorismus längst sinnlos
Umso mehr läuft die absurde Corona-Staatspropaganda zur Hochform auf. Hier ein YouTube-Video aus Shanghai, das eine taiwanische Zeitung mit Material aus dem chinesischen Staatsfernsehen zusammengeschnitten hat. So sieht eine Corona-Diktatur aus: Da tanzt eine junge Ballerina vor vermummtem Testpersonal, und ein Kind bedankt sich bei ebenfalls eingepackten Blockwarten, bevor sie die Tür zur elterlichen Wohnung zunageln.
Dabei dürfte ein derartiger Rigorismus längst sinnlos sein. Zwar trommeln die staatlichen Medien, dass 88 Prozent ihrer 1,4 Milliarden Bürger geimpft seien. Aber ohnehin ist bekannt, dass chinesische Impfstoffe schon bei der Delta-Variante nur noch über eine Wirksamkeit von weit unter 50 Prozent verfügten. Eine dritte Injektion, die nach Ansicht auch von chinesischen Virologen vielleicht mehr Schutz bieten könnte, gibt es fast gar nicht in dem Riesenreich. Zudem existieren nur sehr widersprüchliche Angaben, wie viel der heimischen Impfstoffe noch gegen die Omikron-Variante hilft.
Parteichef mit unbeschränkter Amtszeit
Es steht deshalb zu befürchten, dass Xi Jinping einen Kampf gegen Windmühlen ficht. Als Kommunist alter Schule ist die Corona-Bekämpfung längst zu seinem perfiden Werkzeug geworden, das Land immer weiter abzuriegeln, sozialen Austausch zu überwachen – und sie ist auch Teil seiner Karriereplanung geworden.
Nachdem er schon Präsident auf Lebenszeit ist, möchte er im Herbst auf dem 20. Parteitag der KPCh auch als „Steuermann“, wie dereinst nur Mao Zedong, zum Parteichef mit unbeschränkter Amtszeit gekürt werden. Voraussetzung ist vor allem politische Ruhe und wirtschaftliche Zufriedenheit im Lande. Xis Markenkern steht für Null-Covid. Damit habe er quasi bewiesen, dass „Xi-Na“, seine Version des kommunistisch gesteuerten Kapitalismus, dem dekadenten Westen überlegen sei. Aber das hält die Wirtschaft nicht lange aus. Weder in China noch im Rest der Welt.
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