Stephan Thome hat mit seinem Familienroman „Pflaumenregen“, der in Taiwan spielt, ein großartiges Werk geschaffen. Immer wieder musste ich beim Lesen an Pearl S. Bucks China-Epos „Die gute Erde“ oder „Der große Regen“ von Louis Bromfield denken. Denn wie bei den beiden großen Erzählern zu Asien in der Literatur des Westens, versteht es Thome seine Leser tief in die Seele seiner Protagonisten schauen zu lesen. Nicht verkitscht, nicht verklärt, keine Plattitüden, wie so oft, wenn westliche Autoren sich der diffizilen Kunst der Erzählung aus der Sichtweise von Asiaten über ihre Kultur zuwenden. Ich wüsste keinen deutschen Autoren, dem das bisher besser gelungen ist.
Überdies könnte „Pflaumenregen“ das wichtigste Buch zum Verstehen der komplizierten Geschichte des Land werden, das jetzt durch den Ukraine-Krieg wieder besonders im Fokus politischer Betrachtungen zu Asien steht. Denn was Kiew durch Putin gerade angetan wird, droht auch Taiwan, sollte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping international nicht in die Schranken gewiesen werden.
Thome geleitet durch den historischen Dschungel an der Hand von Umeko, einem achtjährigen Mädchen, das im Norden Taiwans zum Ende der japanischen Kolonialzeit aufwächst.
An ihr und entlang ihrer weitverzweigten Familie formt der studierte Philosoph und Sinologe ein faktenreiches und brillant geschriebenes Mosaik dieses kulturellen Schmelztiegels zwischen japanischer, chinesischer, europäischer und US-amerikanischer Kultur, deren Ureinwohner überdies einer Tradition der austronesischen Kulturwelt entstammen.
Zugegeben war ich bei der Lektüre des Buchs eingangs etwas misstrauisch, ob es mir einen Erkenntnisgewinn verschaffen würde oder auf dem großen Stapel der nie zu Ende gelesenen Asien-Bücher landen würden. Doch was ich mit bewundernder Hochachtung konstatieren muss, ich habe vieles dazu gelernt, auch längst Vergessenes kam wieder zurück. Dank sei dem Autor.
Wenn Kenji, Umekos Bruder etwa, im Lager der chinesischen Besatzer unter Chiang Kai-sheks Schergen verschwindet, dann fiel mir wieder eine der ersten Reisen mit taiwanesischen Oppositionellen ein. Das war 1985, noch zwei, drei Jahre bevor Chiang Ching-kuo, der Sohn und Nachfolger des Generalissimus Chiang Kai-shek endlich eine Demokratisierung, der von seinem Vater mit eiserner Hand regierten Insel zuließ. Wir saßen in einem gecharterten Reisebus, auf dem Weg zur Beerdigung eines bekannten Dissidenten. Ich, noch junger taz-Reporter, alle anderen ehemalige politische Häftlinge, viele schon ergraut.
Sie sangen die Lagerlieder, die ich nicht verstand, weil sie in Taiwanisch oder Japanisch waren, ich aber nur Hochchinesisch spreche. Über Bordmikrofon forderte uns der Fahrer irgendwann dazu auf, die abgebüßten Jahre Gefängnis, die da beieinandersaßen, einmal zusammenzurechnen. Wir waren etwa 30 oder 40 Reisende und kamen auf über Tausend Jahre Gefängnis. Ich war der Einzige im Bus, der nichts zur Gesamtaufstellung beitragen konnte. Aber für meine Nähe zur Untergrundopposition sollte ich bald darauf zum ersten Mal aus einem Land ausgewiesen werden.
Alles ziemlich kompliziert mit der Insel, zumindest damals. Aber Thome schafft es sprachlich spielerisch, aber dennoch eindrücklich zu erklären, dass Taiwan seinen Status als erste Demokratie in der chinesisch-sprachigen Welt hart erkämpfen musste. Denn die Lebensgeschichten, die Thome für seine Charaktere entstehen lässt, könnten alle wahr sein. Sie sind es wahrscheinlich sogar und haben historische Entsprechung in seiner taiwanischen Familie.
Der Roman, der damit so leicht daher kommt, ist eigentlich ein Lehr- und besonders Erklärstück dazu, dass Taiwan seine Demokratie genauso wenig wieder hergeben will wie etwa Hongkong oder gar die Ukrainer. Schon gar nicht an einen großen Nachbarn, der in seiner nationalistischen Großmannshybris außer Unfreiheit und Unterdrückung wenig an Zukunftspersepktiven zu bieten hat.
„Pflaumenregen“ ist deshalb ein wichtiges Buch, ein lesenswertes dazu, weil Thome ein brillanter Diaolog-Schreiber ist, sodass sich Umekos Geschichte so wunderbar unterhaltsam lesen lässt, als schaue man eine Netflix-Serie.
Ein paar kritische Bemerkungen seien mir trotzdem erlaubt. Obwohl ich Jahre in Taiwan gelebt habe, ist es mir nie gelungen, Baseball zu verstehen, weil ich mich nicht dafür begeistern konnte. Vielleicht auch umgekehrt? Deshalb aber gestalten sich die ersten 20 Seiten mit den langen Beschreibungen eines Baseballspiels etwas mühsam. Eine Erklärung im Nachspann, warum Taiwan so Baseball besessen ist, und um was es bei dem Spiel geht, wäre hilfreich.
Und, obwohl ich einst Sinologie und Japanologie studiert habe, ist mir manchmal bei Namen und Begriffen der Faden gerissen. Ein paar Fußnoten, zugegebenermaßen unüblich bei Romanen, in diesem Falle aber hilfreich, würden Leser, die nicht so sehr mit der Region vertraut sind, sicher schätzen. Gleiches gilt für etwas ausführlichere Karten in den unterschiedlichen Schreibweisen.
Zuletzt wünsche ich mir für den Nicht-Asienkenner unter den Lesern eine kurze Abhandlung zur Geschichte der Insel, mit den Bezügen zu Japan und China*. Sonst sehe ich den Leser mehr auf Wikipedia beim Nachschlagen, als beim Schmökern in dem wirklich großartigen Roman. Und was wäre schade.
Stephan Thome: Pflaumenregen, Suhrkamp. 25.00 €.
*(Jiang Rong alias Lü Jiamim etwa, hat das in seiner mitreisenden Erzählung „Wolfstotem“ mit einem längeren Essay im Nachklapp zu seinem packenden Buch genial gelöst.)
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