Als der radikal islamische Prediger Rizieq Shihab* vor dreieinhalb Jahren sein Heimatland Indonesien verlassen musste, war das in Schimpf und Schande geschehen. Er hatte weibliche Anhänger aufgefordert, ihm Nacktbilder zu schicken und sich des Tatbestands der strafbaren „außerehelichen Beziehung“ schuldig gemacht. Damit war der Anführer der gefürchteten Islamischen Verteidiger-Front (FPI für „Front Pembela Islam“) ausgerechnet über das umstrittene Anti-Pornographiegesetz gestolpert, das seine radikalen Kampftruppen dem einst liberalen muslimischen Inselstaat aufgezwungen hatten.
Seine Gegner werfen ihm vor, dass er mit seinem Aufruf zur „moralischen Revolution“ das größte muslimische Land der Erde in ein zweites Pakistan verwandeln will. Für seine Anhänger ist er aber eine Art muslimischer Messias, der Indonesien von seinen „korrupten und unmoralischen Politikern“ befreien wird. Gleich welcher Meinung man sich anschließt, klar ist, für den amtierenden Präsidenten Joki Widodo, von seinen Anhängern jovial „Jokowi“ genannt, ist der Islamist aber schon jetzt zu einem veritablen innenpolitischen Problem geworden.
Rizieq hat den Zeitpunkt für seine Rückkehr klug gewählt. Wegen der Corona-Viruskrise ist das mit gut 270 Millionen Einwohnern größte Land Südostasiens erstmals seit Ende der Neunzigerjahre in eine tiefe Rezession gerutscht. Die Behörden haben mehr als 18.500 Todesfälle durch Covid-19 gemeldet (11. Dezember 2020), Höchststand in der Region. Nach Quellen der Johns-Hopkins-Universität sollen mehr als 600.000 Menschen mit dem Virus infiziert sein. Aber wer kann das schon genau sagen, für ein Land, dessen kulturell diverse Gesellschaft auf einen Archipel von mehr als 17.500 Inseln verteilt ist.
Als der in Saudi-Arabien und Malaysia ausgebildete Geistliche am zehnten November am Flughafen Soekarno-Hatta der Hauptstadt Jakarta landete, begrüßten ihn mehrere Zehntausende johlender Anhänger, das im klaren Widerspruch zu den geltenden Corona-Verordnungen. Tage später lud er mehrere Tausend Gäste zur Hochzeit seiner Tochter ein. Zwei hochrangige Polizeigeneräle mussten daraufhin geschasst werden, weil sie sich geweigert hatten, die geltenden staatlichen Hygienerichtlinien während der Feier durchzusetzen.
Auch politisch lässt die Rückkehr des Predigers nichts Gutes erwarten. Denn unzweifelhaft ist der Aufstieg von Rizieqs FPI mit der Entstehung der Taliban, al Kaida und anderen radikal-islamistischen Gruppen in Pakistan vergleichbar. Wie dort derartige Gruppen vom allmächtigen pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence mitgegründet oder zumindest protegiert wurden, so ist Rizieqs Miliz auch ein Kinder der indonesischen Armee TNI.
Nach dem Sturz von Diktator Suharto im Jahre 1998 hofften seine pro-amerikanischen Generäle die überall im Archipel aufbrechenden muslimischen Milizen mit Hilfe von Rizieqs FPI besser kontrollieren zu können. Wahrscheinlich hatte der militärische Geheimdienst seine Finger bei der Gründung der FPI mit im Spiel. Damit sollten radikal-islamistischen Strömungen in der mit Abstand größten Demokratie Südostasiens gleich von Beginn an, einen Riegel vorgeschoben werden. Ein Versuch freilich, der gehörig misslang.
Denn schon im November des Jahres waren damals mehr als 200 von Rizieqs weißbekittelten Anhängern auf die vorwiegend von Katholiken bewohnte Insel Ambon gereist, wahrscheinlich von korrupten Generälen finanziert und mit Waffen ausgestattet. Sie veranstalteten Massaker unter der einheimischen Bevölkerung und brannten Kirchen nieder. Mehrere Tausend Todesopfer waren in den folgenden Kämpfen zu beklagen. Erstmals sprach man im bis dahin multi-religiösen Vielvölkerstaat Indonesien wieder von „ethnischen Säuberungen“. Das Kalkül der Generäle, sich angesichts des entstehenden Chaos erneut an die Macht putschen zu können, schlug zwar fehl. Aber der radikale Geist der FPI war nicht mehr zurück in die Flasche zu kriegen.
Seit nunmehr zwei Jahrzehnten spielt Rizieq eine führende und äußerst dubiose Rolle im undurchsichtigen Wayang, dem Schattenspiel um Macht, Pfründe und Kontrolle der Seelen der unterpriviligierten, verarmten Massen in der indonesischen Innenpolitik. Jahrelang konnten seine Anhänger vermummt, aber meist ungehindert von der Polizei in Jakarta und anderen Großstädten des Landes über Kneipen und Diskotheken herfallen, wann immer sie dachten, der Islam sei in Gefahr. Erst 2008 wurde der Hassprediger zu 18 Monaten Haft verurteilt, weil seine Kampftruppen in Jakarta eine angemeldete Demonstration von politischen Gegnern blutig niedergemacht hatten. Seinem Aufstieg zur vordersten Stimme des radikalen Islam auf dem Inselarchipel tat das keinen Abbruch.
So spielte die FPI auch eine Schlüsselrolle bei der Entmachtung und Kriminalisierung von Basuki Tjahaja Purnama, dem früheren Gouverneur von Jakarta. Basuki, ein Christ und Verbündeter von Präsident Joki Widodo hatte in einer Wahlkampfveranstaltung vor vier Jahren einen Kommentar zum Koran gemacht. Das war zwar in seiner Position äußerst unklug. Aber in völliger Verdrehung des ursprünglichen Zitats von Basuki nutzte der FPI-Anführer die Gunst der Stunde. Fortan behauptete er, der Gouverneur habe gesagt, das heilige Buch würde Muslime in die Irre führen. Selbst gemäßigte Muslime waren erzürnt.
In wochenlangen Massendemonstrationen blockierten Anhänger der Miliz daraufhin nicht nur so lange die Straßen der Hauptstadt, bis Basuki abgewählt war. Auch gab die Miliz erst Ruhe, bis der christliche Politiker wegen angeblicher Blasphemie zu zwei Jahren Haft verurteilt im Gefängnis saß.
Kurz sah es danach aus, als habe der radikale Imam damit den Bogen überspannt. Denn kaum war Basuki eingekerkert, gingen schlüpfrige Textnachrichten viral, die der verheiratete Rizieq, Vater von sieben Kindern, einer deutlich jüngeren Anhängerin geschickt haben soll. Der Verurteilung nach dem von ihm einst geforderten Anti-Pornographiegesetz entzog er sich durch eine Flucht nach Saudi-Arabien.
Jetzt ist die Straftat verjährt und es besteht wenig Zweifel, dass der islamische Heißsporn nach seiner Rückkehr die Politik vor sich hertreiben will. Während seiner Abwesenheit waren seine Milizionäre für die Einführung der Scharia im ganzen Land auf die Straße gegangen. Nachdem dies im nationalen Parlament vorerst misslungen war, versuchen nun seine Emissäre in abgelegenen Regionen des Inselarchipels Lokalregierungen zu Verordnungen zu drängen, die das islamische Recht dort quasi durch die Hintertür einführen.
In mehr als 400 Orten Indonesiens werden Frauen nun gezwungen, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen oder ist der Alkoholverkauf verboten worden. Obwohl Indonesien mit gut 235 Millionen Gläubigen das größte muslimische Land der Welt ist, waren bisher fünf anerkannte Religionen dem Islam gleichgestellt. Rizieq möchte diesen in der Verfassung verankerten Grundsatz abschaffen. Als Vorbild dient ihm Pakistan.
Glücklicherweise scheint das in Indonesien noch ein langer Weg zu sein. Noch sind moderate Muslime in der Mehrheit. Allein mehr als 140 Millionen Anhänger zählen die beiden führenden, liberal-islamischen Glaubensgemeinschaften Nahdlatul Ulama (NU) und Muhammadiyah. Zwar weigert sich die FPI ihre genauen Mitgliedszahlen zu veröffentlichen, aber nach Angaben der Sicherheitskräfte dürften diese sich weit unter einer Million bewegen.
Doch schafft es Rizieq immer wieder, mit seinen aufpeitschenden Reden, die mit Humor und plumpen Parolen gespickt sind, mehrere Millionen Menschen zu mobilisieren. Und zusehends treibt er damit die gemäßigten Islamverbände und gewählten Parteien vor sich her. Bald wird er mit dem Druck der Straße auch Gesetze im Parlament schreiben lassen können.
Seit seiner Rückkehr hat Rizieq ein halbes Dutzend überfüllter Veranstaltungen abgehalten, bei denen er nicht nur die „moralische Revolution“ für Indonesien forderte, sondern auch gleich alle Corona-Vorsichtsmaßnahmen über den Haufen warf. Bei einer Zusammenkunft in Jakarta warnte er etwa, dass es auch bald in Indonesien zu Enthauptungen wie jüngst in Frankreich kommen könnte, wenn man Gotteslästerer nicht ernsthafter verfolgt.
Bei einem anderen Auftritt beschuldigte er Präsident Jokowi, dass er das Land in eine Krise geführt habe, weil seine Regierung sich weigerte, landesweit die Scharia einzuführen. Diese kommt bisher nur in der nordwestlichen Provinz Aceh zur Anwendung. Zum Entsetzen der großstädtischen Eliten und andersgläubigen Minderheiten im Land werden in Aceh regelmäßig Ehebrecher, Diebe und Homosexuelle öffentlich ausgepeitscht.
Seine vermeintliche moralische Überlegenheit bezieht Rizieq, dessen Vorfahren aus dem arabischen Raum stammen, aus der unbewiesenen Behauptung, dass er vom Propheten Mohammed abstamme. Für viele seiner ungebildeten und damit leichtgläubigen Anhänger avanciert er damit automatisch zur moralischen Richtschnur des Landes.
Bei seiner Rückkehr hatten sie entlang der Fahrtroute vom Flughafen in die Innenstadt riesiger Plakate aufgehängt, auf denen er als „Imam Besar“ (Großimam) willkommen geheißen wurde, versehen mit der Aufforderung: „Vorwärts mit der moralischen Revolution!“
„Wer zur Revolution aufruft, der gefährdet die Einheit unseres Landes,“ warnte daraufhin Dudung Abdurachman. Der Generalmajor ist der Oberbefehlshaber der Armee für den Großraum Jakarta. Er befahl seinen Truppen, die Stadtverwaltung bei der Entfernung der „illegalen Plakate“ tatkräftig zu unterstützen. Doch schneller als die Plakate entfernt waren, hatten Rizieqs FPI-Milizen wieder neue aufgehängt.
Mit Material von: Asia Sentinental, Jakarta Post, Kompas, New York Times und Straits Times Singapur.
*Indonesier benutzen häufig nur einen Namen. Falls ein Vor- und ein Nachname benutzt wird, entspricht in der Regel der erste Name einem deutschen Familiennamen.
Kommentar hinterlassen zu "Dieser Mann möchte Indonesien zu einem zweiten Pakistan machen"