Jahresende ist auch die Zeit für Buchrückblicke. Unter all den Asien- und besonders China-Titeln, die ich dieses Jahr gelesen, angelesen und überflogen habe, ist bei mir besonders das Werk des britischen Journalisten und Sinologen Graham Hutchings „China 1949, Year of Revolution“ hängengeblieben*. Obwohl derzeit nur in Englisch verfügbar, ist es für mich das beste China-Buch des Jahres 2021.
Gut erinnere ich mich noch an ein Gespräch mit dem Autor. Er war damals Korrespondent des britischen Daily Telegraph in Peking und wir saßen auf gemeinsamer Dienstreise in irgendeinem heruntergekommenen Hotel in der chinesischen Provinz fest. Ich hatte die Wurfantenne für mein Sony-Kurzwellenradio aufgespannt und wir hörten erst BBC-World, dann chinesische Lokalradios und blätterten in Lokalzeitungen.
Was Hutchings schon damals auszeichnete, war, dass er nicht nur gut Chinesisch sprach, sondern auch bestens lesen konnte. Ich fragte ihn, warum er als ausgezeichneter Sinologe ausgerechnet beim etwas boulevardesken und erzkonservativen „Telegraph“ angedockt hatte. Er antwortete in der den Briten ureigenen Mischung aus Schlagfertigkeit und Witz: „Ich wollte nicht mein ganzes Berufsleben in einem abgedunkelten Lieferwagen vor der chinesischen Botschaft in London mit Kopfhörern auf dem Kopf verbringen.“ Dies als Hinweis, dass die besten Sinologen seiner Generation noch häufig beim britischen Inlandsgeheimdienst MI5 landeten.
Für den britischen Journalismus war das damals ein Segen. Denn wenige Kollegen in Peking und schon gar nicht in Hongkong, wo er später hinzog, hatten so ein gutes Verständnis von ihrem Berichtsland China. Ein Glück aber auch, dass Hutchings sich dann nach mehr als einem Jahrzehnt in den Medien, wieder der Sinologie zuwendete.
Denn die Bücher, die er fortan erst als Direktor des Thinktank Oxford Analytica und später als Honorarprofessor an der Universität Nottingham sowie als Mitarbeiter am China Centre der Universität Oxford schrieb, stellen immer eine Bewusstseinserweiterung im sinologischen Orbit dar. Sie sind im flüssigen Erzählstil eines guten Journalisten geschrieben, verfallen dann aber nicht in Plattitüden, Mutmaßungen oder geben gar der KP-Propaganda auf den Leim geht, sondern sind von einer wissenschaftlichen Faktendichte, die einem vor wohlwollendem Neid erblassen lässt.
Mit seinem jüngsten Werk „China 1949, Year of Revolution“ ist Hutchings sein vorläufiges Meisterstück gelungen. Wie kein anderer Autor vor ihm, schildert er nochmals das Schicksalsjahr der jüngeren chinesischen Geschichte. Im Jahr 1949 erreichte der chinesische Bürgerkrieg einen Wendepunkt.
Zur Überraschung fast aller Experten besiegte die schlecht gerüstete Volksbefreiungsarmee (VBA) in kürzester Zeit die nationalistischen Kräfte Chiang Kai-sheks. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) kam an die Macht und die Volksrepublik China (VRCh) wurde gegründet. Chiang und seine zunächst pro-sowjetische, später pro-amerikanische Partei Kuomintang (KMT) flüchteten nach Taiwan. In einem einzigen Jahr endete die westliche Vorherrschaft in China und eine neue historische Ära begann.
Die Ereignisse werden sowohl biografisch, als auch politisch und historisch erzählt. Führende Persönlichkeiten wie Mao Zedong, sein Feldherr Lin Biao, der spätere Premier Zhou Enlai und seine Widersacher KMT-General Chiang Kai-shek oder der Kommunisten-Schlächter Bai Chongxi werden in einer Weise porträtiert, wie es auch Kennern der Geschichte Chinas noch einen sinologischen Quantensprung verschafft.
Das Gleiche gilt, wenn der Autor den bekannten Akteuren gewöhnliche Menschen gegenüberstellt, die ihre eigenen, einzigartigen Geschichten haben. Dazu gehören Li Zhisui, der Arzt, der Maos Leibarzt wurde, oder Mei Jun, eine junge Frau, die durch den Bürgerkrieg aus ihrer Heimat in China vertrieben wurde und die sich auf Taiwan niederließ.
Es gibt auch Geschichten von Geschäftsleuten, die sich entscheiden mussten, ob sie bleiben und ihr Los mit den Kommunisten teilen oder nach Hongkong, Taiwan oder in den Westen fliehen sollten. Heute erzeugt das fast schon wieder ein déjà-vu.
„Hutchings hat gründlich recherchiert“ schreibt Asia Times. Das ist aber eine gehörige Untertreibung. Der Autor hat sich einem Schneepflug im Frühjahr auf verschneiten Passstraßen gleich, durch fünf historische Archive gefräst. Die Auswahlbibliografie und der Index umfassen 25 Seiten.
Das tragische an dem Buch freilich ist, dass der chinesische Bürgerkrieg, der 1949 beendet schien, bis heute nicht beigelegt ist. Zwar hat das demokratische Taiwan die Herrschaft der KMT abgeschüttelt, doch im Festland regiert noch immer die gleiche KPCh. Ihr und nicht dem chinesischen Staat untersteht die „siegreiche“ Volksbefreiungsarmee.
Deren oberster Steuermann, Chinas Präsident auf Lebenszeit Xi Jinping, lässt neuerdings denn auch keinen Zweifel, dass Maos Sieg nicht vollkommen sei. Solange jedenfalls nicht, bis das de jure unabhängige Taiwan auch der Herrschaft der Kommunisten aus dem Festland untersteht.
Wer dieses Buch liest, verfügt über fundiertes Lese-Material, um in dem möglicherweise bald wieder aufflammenden Konflikt rhetorisch perfekt und wissenschaftlich korrekt gerüstet zu sein.
*Graham Hutchings: China 1949: Year of Revolution, Bloomsbury Academic (Bloomsbury Publishing), Januar 2021. 305 Seiten.
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