Myanmars Generation Z: Vom Tango in den Untergrund – Von Kerstin Duell

NLD Wahlkampagne, Oktober 2015Wahlkampagne der NLD in friedlichen, längst vergangenen Tagen. Foto: Kerstin Duell

Sie war als Politologin und Mitarbeiterin von Nichtregierungsorganisationen nach Myanmar gekommen. Einem Land, mit dem sie sich fast zwei Jahrzehnte wissenschaftlich beschäftigt und dessen politische Exilanten sie begleitet hatte. Dort lernte sie die jungen Leute der Generation Z kennen, die jetzt ihr Leben für den Aufstand gegen die Militärs opfern. Die Rikscha-Reporter-Gastautorin zeichnet eine Collage des ungewöhnlichen Widerstands, der nur mit Fantasie und Technologie bewaffneten jungen Leute gegen eine hochgerüstete Armee, die vor keinem Gräuel zurückschreckt.

Anmutigen Burmesen und anderen Asiaten argentinischen Tango in Yangons Institut Français beizubringen, war einfach bezaubernd. Bis dahin hatte ich ausschließlich mit politisch versierten Anführern der Generation 1988, Rebellenarmeen, den politischen Parteien der ethnischen Minderheiten, Frauenorganisationen und anderen zusammengearbeitet, die gegen die Diktatur kämpften.

Generation Z mit ihrem Fokus auf Kosmetik, Kleidung, Glamour und Technologie, die Myanmar plötzlich überschwemmten, bildete ein scharfes Kontrastprogramm. Ihre Neugier beschränkte sich auf meine Schönheits-, Ernährungs- und Trainingsgewohnheiten. Ob dieses völlige politische Desinteresse auf ängstliche Eltern zurückzuführen war, die ihren Kindern Schwierigkeiten und Gefängnis ersparen wollten?

Ein Bild aus längst vergangenen, friedlichen Tagen in Yangon. Aung San Suu Kyi spricht 2014 zu ihren Anhängern. Foto. Kerstin Duell.

Die Erwähnung meiner Doktorarbeit über burmesische Exilpolitik, die Monate in Asiens Grenzgebieten, von denen ich ihnen erzählen wollte, und davor der Job bei einer Untergrundorganisation in Thailand, all das ließ meine Tanzschüler völlig kalt. Sie suchten hauptsächlich nach Bildungs- und Karrieremöglichkeiten, träumten vom Reisen und lasen, falls überhaupt, nur Wirtschaftsnachrichten. Während unserer Wochenenden am Strand stellten ihre Posen und Selfies jedes professionelle Model in den Schatten. Amüsiert beobachtete ich den rasanten Wandel der Gesellschaft.

Der Putsch vereint die Jugend in Städten und Konfliktzonen

Seit dem Militärputsch, Verhaftung der demokratisch gewählten Regierung und Ausnahmezustand am ersten Februar 2021 spielt die Generation Z jetzt eine führende Rolle in landesweiten Protesten gegen das Militär. Generation Z macht gut 40 Prozent der Bevölkerung aus, zählt man alle unter 49-Jährigen dazu, wären es schon über 80 Prozent. Hochrangige Militärs (auch in Ministerien und Parlamenten) dagegen gehören zur Altersgruppe 55-70. Diese Generation der Herrschenden und Mächtigen besteht zudem nur aus Männern.

Ohne Erinnerungen an die landesweiten Massaker zu haben, an unbewaffnete Demonstranten im Jahr 1988 und zu jung, um das blutige Ende der von Mönchen geführten „Safran-Revolution“ im Jahr 2007 zu begreifen, teilen junge Burmesen den Hass ihrer Eltern, aber nicht deren Angst vor dem Militär.

Proteste gegen Vetternwirtschaft in Myanmar. Foto. Kerstin Duell

Die Jugend ethnischer Minderheiten dagegen ist in Konfliktgebieten mit Krieg aufgewachsen, mit ständigen Menschenrechtsverletzungen, sich bekämpfender Milizen, kriminellen Netzwerken, Drogen und Rohstoffausbeutung. Ihre Gesellschaft und Umwelt werden seit langem zerstört. Die daraus resultierende Migration ist ihr Alltag. Immer wieder organisierten sie Proteste und wurden auch unter der Militär-NLD Doppeladministration eingeschüchtert oder vor Gericht gestellt.

Nachdem gerade die urbane Bevölkerung seit 2012 einen bis dahin unvorstellbaren Wohlstand, mehr Freiheiten, und mit Handys und Internet eine Revolution der sozialen Medien erlebt hatte, versetzte COVID-19 allen Plänen einen schweren Dämpfer.

Interviews, die ich in den Grenzgebieten Myanmars Ende 2020 mit ethnischen Minderheiten geführt hatte, ergaben ein niederschmetterndes Bild. Besonders junge Leute klagten über den Verlust von Einkommen, Perspektivlosigkeit, Depressionen, Drogenabhängigkeit, Gewalt und Selbstmord. Der sexuelle Missbrauch von Kindern steigt stark an, etwa im Shan Staat. Entlang der Routen des burmesischen Drogenhandels zwischen China und Indien greift der Drogenmissbrauch sogar in Schulen um sich und wird von der ethnischen Zivilgesellschaft vielerorts als Hauptbedrohung angesehen.

Soldaten werden unter Drogen gesetzt

Da das Militär mit dem Putsch am 1. Februar alle Fortschritte und Entwicklungen zunichte gemacht hat, verliert Myanmar seine Zukunft. „Wir sterben lieber, als wieder unter dem Militär zu leben,“ war ein gängiger Kommentar. Anfangs bezog sich das „nur“ auf das Sterben an COVID-19, denn bis dahin war trotz Lockerungen die Maskenpflicht, Abstand halten und Arbeit von zuhause angesagt. Aber der Coup beendete das Thema Pandemie, mangelnde Testmöglichkeiten und ausreichend funktionierende Krankenhäuser sowie ausländische Hilfe schlagartig.

Myanmars urbane Jugend, bis dahin unbelastet von Traumata der Überwachung und Zensur, erlebt nun erstmals Terror: „Wir schlafen nachts nicht vor lauter Angst,“ sagen sie am Telefon. „Unsere Nachbarschaftswachen findet immer wieder entlassene Kriminelle, offenbar auf Drogen. Sie sind mit Werkzeugen für Brandstiftung und Einbruch ausgestattet.“

Soldaten und Polizisten werden routinemäßig unter Drogen gesetzt, angefangen mit Alkohol am Morgen, bis hin zu Amphetaminen, bevor sie Zivilisten erschießen,“ schäumen die Burmesen vor Wut.

Das war im Februar. Inzwischen (er-)schlagen oder erschießen Sicherheitskräfte Passanten auf offener Straße. Sie brechen in Häuser ein, auf der Suche nach Streikführern und besetzen Krankenhäuser, Schulen, Märkte und sogar Klöster. Wochen später wird sich eine andere, alte Taktik der Generäle bestätigt.

Die Militärs gehen mit gleicher Taktik wie in den 1960er Jahren vor. „Soldaten und Polizisten werden routinemäßig unter Drogen gesetzt, angefangen mit Alkohol am Morgen, bis hin zu Amphetaminen, bevor sie Zivilisten erschießen,“ schäumen die Burmesen vor Wut. „Deshalb benehmen sie sich nicht wie Menschen. Sie schicken immer Bataillone aus anderen Landesteilen, weil niemand Freunde und Nachbarn erschießen würde.“

Digitale Kollektive

Auf der anderen Seite setzt der Widerstand der Digital Natives ein, die eine immense Präsenz in den sozialen Medien geschaffen haben. Trotz Internetzensur durch das Militär nutzen die Burmesen über VPN soziale Medien, wie Facebook, Twitter, Signal, Telegram und in geringerem Ausmaß auch LinkedIn, um sich landesweit zu mobilisieren und internationale Unterstützung zu fordern. Das zeigt Wirkung. Schnell hat Facebook die offiziellen Konten der Tatmadaw, wie das Militär in Burmesisch genannt wird, entfernt. Doch das chinesische TikTok beläßt Videos von Tatmadaw-Soldaten und deren Anhängern, die mit Todesdrohungen an Demonstranten gespickt sind, monatelang im Netz.

Vor allem junge Leute sterben in den Kämpfen gegen die Militärjunta. Friedensdemo 2016. Foto. Kerstin Duell

Die alten analogen Militärkommandeure werden von der sofortigen globalen Verbreitung von zehntausenden von Videos, Fotos und Karikaturen überrannt. Während Gewalt, Zerstörung und Plünderungen live auf Facebook übertragen werden, entsteht ein Archiv der Menschenrechtsverletzungen für zukünftige Prozesse.

Diese digitalen Kollektive, hauptsächlich in Yangon, entwickeln auch Apps, um Produkte und Leute zu boykottieren, die mit den Unternehmen der Militärs in Verbindung stehen. Die Bemühungen, Familienmitglieder von hochrangigen Militärs an den Pranger zu stellen, sind erfolgreich. Sie löschen derart brüskiert ihre Profile auf den sozialen Medien, verlieren in Folge Firmensponsoren und lukrative Verträge fallen weg.

Aktivisten setzen auch Universitäten und Regierungen im Ausland unter Druck, dass sie die Kinder von Militärs zurückschicken. Zuvor konnten sie dort in Saus und Braus ein Luxusleben führen. Jetzt droht ihnen die Stigmatisierung. Außerdem entstehen im Internet virtuelle Gedenkseiten für die „gefallenen Sterne und Helden,“ es werden Statistiken über Tote, Verhaftete und Vermisste veröffentlicht.

Von Massendemonstrationen zu menschenleeren Protesten

Anfangs ähneln die landesweiten Straßenproteste bunten Festen, die abends in Andachten bei Kerzenlicht übergehen. Zu Musikern, Malern, Schauspielern und Tänzern in ihren Kostümen, gesellen sich religiöse Führer, Mitglieder der LGBTQ-Bewegung in Regenbogenkleidung und sportliche Beaus mit freiem Oberkörper. Die meisten Plakate sind in englisch verfasst, einschließlich bissiger Witze über das Militär, offensichtlich auf transnationale Verbreitung ausgerichtet, insbesondere wenn man bedenkt, dass Soldaten selten englisch verstehen. Demonstranten trampelten über riesige Porträts des Oberbefehlshabers Min Aung Hlaing auf dem Asphalt, eine tödliche Beleidigung für Buddhisten. Täglich denken sich die Demonstranten neue, kreative Formen des gewaltlosen Widerstands aus.

Täglich denken sich die Demonstranten neue, kreative Formen des gewaltlosen Widerstands aus.

Am 25. Februar werden Infanteriedivisionen aus anderen Teilen des Landes nach Yangon verlegt, einschließlich derer, die an den ethnischen Säuberungen der Rohingya 2016-2017 beteiligt waren. Landesweit werden Gummigeschosse und Wasserwerfer gegen scharfe Munition ausgetauscht. Zivilisten, darunter Kinder und Jugendliche, werden von Scharfschützen ermordet und Mitglieder von Aung San Suu Kyis Partei, der Nationalen Liga für Demokratie (NLP) „sterben“ im Gefängnis. Die Zahl der Todesopfer steigt sprunghaft an. Die Öffentlichkeit bezeichnet das Militär nur noch als Terroristen.

Im März beginnen stumme, kreative Proteste ohne lebende Teilnehmer. Entlang ganzer Straßenzüge entstehen Installationen, die Menschen repräsentieren, etwa Puppen oder Helme von Arbeitern, die fein säuberlich in Reihen angeordnet sind. Dies soll die Unterstützung für die gewählten Vertreter des Parlaments, das CRPH (für Commitee Representing Pyidaungsu Hluttaw) bekunden. Ein Mann aus der Region Sagaing erzählt, wie Demonstranten dort die Straßen mit tausenden von Flaschen zugestellt hatten. Sie waren mit Fotos von Min Aung Hlaing versehen, dem Oberbefehlshaber der Armee. „Als die Soldaten ankamen, waren sie wütend und brauchten Stunden, um alle Flaschen einzusammeln,“ freut sich der Mann. Darüber wegzufahren hat ihr Aberglaube nicht zugelassen, weil es Unglück für sie bringen könnte.

Die Proteste funktionieren ohne eigentliche Anführer. „Wir organisieren uns sehr lokal, fast persönlich. Nur einige von uns halten relevante Medienkontakte. Wird jemand verhaftet, übernehmen Andere diese Aufgaben,“ erklärt eine 25-jährige Aktivistin. „Anfangs haben wir Art, Ort und Zeit der Straßenproteste online koordiniert, aber dann bekamen die Sicherheitskräfte Wind davon,“ berichtet ein 28-Jähriger aus Yangon. „Als die Soldaten schließlich auch online waren, mussten wir sie austricksen, indem wir eine halbe Stunde vor der Veranstaltung Rätsel online stellten.“

Wahlbüro bei Parlamenstwahlen 2012. Foto: Kerstin Duell.

Repression und Exodus

Am 26. März legte das Militär im staatlichen Ferngesehen seine Tötungsabsichten offen, indem es Demonstranten vor Kopfschüssen warnte. Vielerorts wird Kriegsrecht verhängt. Besonders Journalisten, medizinisches Personal und Gewerkschafter werden verfolgt. Beamte, die sich an den landesweiten Streiks beteiligt haben, werden aus ihren Wohnungen vertrieben. Ethnische Rebellen, die auf der Seite der Demokratiebewegung kämpfen, werden bestraft. Das Militär bombardiert die Dörfer der Karen- und Kachin-Minderheiten.

Aus Yangon fliehen die Arbeiter der ungefähr 300 Fabriken aus dem abgebrannten Industrieviertel Hlaing Thayar. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration kehrten mehr als hunderttausend Migranten in ihre Heimatregionen zurück. Auch die Mittelschicht bringt sich in Sicherheit. „Meine Familie will die Stadt verlassen und zu Verwandten aufs Land ziehen,“ erzählt eine junge Angestellte einer internationalen Organisation, deren Chef das Land verlassen und die Finanzierung eingefroren hat. „Aber wir haben Angst, dass jemand unsere Wohnung besetzt.“ In Asien sind Eigentumswohnungen und Goldschmuck oft die einzigen Besitztümer der Menschen, besonders in Krisenzeiten, wenn das Bankensystem zusammenbricht und Arbeitsplätze weggefallen sind.

Straßentheater in Myanmar. Foto: Kerstin Duell

Exilburmesen, die mit ausländischen Pässen zurückgekehrt waren, um das Land wieder aufzubauen, setzen sich ab. „Ich bekam eine SMS vom Militär, dass man mich sprechen wolle,“ berichtet ein sichtlich aufgewühlter Burmese aus Australien. „Kurz darauf waren wir mit dem Allernötigsten auf dem Weg zum Flughafen. Meine Eltern sind bereits im Gefängnis.“

Da der Putsch hauptsächlich den Interessen des Oberbefehlshabers und seiner Gefolgsleute dient, gilt es für die Demonstranten jetzt, Polizisten und einfache Soldaten auf ihre Seite zu bringen. Junge Toningenieure kreieren Radiosendungen für Soldaten und deren Familien, um der „Gehirnwäsche“ der Tatmadaw positiv entgegenzuwirken. Radio aus dem Untergrund bietet eine gute Alternative. So rief das Streikkomitee der ethnischen Gruppen am 2. April einen Piratensender ins Leben, um Nachrichten, Protestinformationen und Updates für den Großraum Yangon zu senden.

Erstmalige Solidarität inmitten des Blutbads

Im Jahr 2021 stärkt die gemeinsame Erfahrung der Brutalität des Militärs die inter-ethnische Solidarität im Land. Erstmals im postkolonialen Burma baten die Angehörigen der Bama, die das Mehrheitsvolk stellen, die ethnischen Minderheiten vielerorts um Vergebung. Angesichts des tiefsitzenden Misstrauens bedeutet das eine bahnbrechende Entwicklung. Meine Freunde aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen waren noch von ihren Großeltern gewarnt worden, niemals einem Bama zu vertrauen.

Autorin Kerstin Duell mit Ministerin im burmesischen Mon-Staat. Foto: Kerstin Duell

Noch wegweisender sind Entschuldigungen bei den Rohingya, deren „ethnischer Säuberung“ das ganze Land relativ passiv beiwohnte. „Wir bitten die Rohingya nun um Vergebung,“ betont eine streng christliche Chin, die vor einem Jahr sicher nicht einmal dieses Wort ausgesprochen hätte. Dies ermöglichte es den Rohingya, sich öffentlich als Gruppe den Protesten im Februar anzuschließen. 

Vertrauen wächst sehr langsam. Aber nie dagewesene Solidarität zwischen den verschiedenen Ethnien, den Beamten der Bewegung des zivilen Ungehorsams (CDM) einschließlich der Diplomaten im Ausland und einigen bewaffneten ethnischen Gruppen stellt die größte Bedrohung für die Tatmadaw dar. Aber nur die „Generation Z“ wird in der Lage sein, Fortschritte in Richtung pan-ethnischer Gleichberechtigung in einer gemeinsamen, föderalistischen und demokratischen Vision zu generieren, die weit über die der führenden Partei NLP hinaus geht. Die Verluste werden hoch sein, aber es steht auch alles auf dem Spiel, was es langfristig zu gewinnen gibt.

Über den Autor

Kerstin Duell
Dr. Kerstin Duell ist eine deutsche Politologin, die seit zwei Jahrzehnten in Südostasien und Indien lebt. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Entwicklungspolitik, mit dem Fokus auf menschliche Sicherheit im Brennpunkt autoritärer Systeme, Menschenrechte, Migration, Frauenfragen und transnational organisiertem Verbrechen. Sie promovierte in Singapur zur burmesischen Demokratiebewegung im Exil und schrieb ihre Masterarbeit in London über Geopolitik und die Außenbeziehungen der burmesischen Militärregierung unter Sanktionen. Zudem arbeitet Duell als Fotografin, mit Ausstellungen in Südostasien, und war 2006-2014 Markenbotschafterin für den japanischen Kameraproduzenten Olympus in Singapur.

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